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Gesellschaft und Gesicht in Tunesien - Ehre, Wahrheit und Lüge


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Einen wesentlichen Anteil an Mißverständnissen zwischen einem Deutschen und einem Tunesier, und zwar nicht nur in gesellschaftlichem, sondern auch in persönlichem, Kontext, liegt in den unterschiedlichen Gesellschaften, in denen die Personen sozialisiert wurden, begründet.

Namentlich der Kulturbestandteil, den man "Gesichtswahrung" nennt, spielt hier eine bedeutende, wenn nicht sogar eine überragende, Rolle.

"Gesichtswahrung" ist dabei nichts, was es nur in Tunesien gibt. Vielmehr begegnen wir diesem Phänomen hauptsächlich in einem Bereich, der sich vom Mittelmeer her über den Nahen und Fernen Osten bis hinauf nach China spannt.

Natürlich gibt es in jeder Region Besonderheiten, die sich oft aus den unterschiedlichen Lebensverhältnissen und Glaubensrichtung entwickelt haben, doch die generelle Existenz ist allen Regionen zu eigen.

Im Nahen Osten ("Arabien") und in Nordafrika sind die Bedingungen und Verhältnisse dabei relativ ähnlich, weshalb vieles hier gesagte für den gesamten Raum zutrifft und sich meist nur in Nuancen oder Betonungen unterscheidet.
Ebenso verhält es sich mit Deutschland und "westlichen Ländern"; auch hier herrschen weitgehend identische Werte und Kulturpräferenzen.

Auch wenn im Folgenden also von "Tunesien" und "Deutschland" gesprochen wird, stehen diese Bezeichnungen nur stellvertretend für den jeweiligen Kulturraum, in dem sich Tunesien und Deutschland befinden.

Man sollte allerdings nicht glauben, daß diese typischen Kultubestandteile nun unbedingt und für jeden Bewohner dieser Räume gelten - ebenso wie es in westlichen Ländern Personen gibt, die die herrschenden Gesellschaftswerte demonstrativ in Frage stellen, gibt es diese Personen auch im arabischen Kulturraum, und sie stammen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Dennoch - auch den "Rebellen", die nur einen kleinen Prozentsatz der jeweiligen Bevölkerung ausmachen, sind trotzdem die Paradigmen ihrer Gesellschaft bekannt und die Wahrscheinlichkeit, daß jemand dauerhaft und völlig außerhalb des gesellschaftlichen Konsens lebte, ist, dort wie hier, extrem gering.

Mit der Gesichtwahrung einher geht in Tunesien, aus deutscher oder generell aus westeuropäischer Sicht, ein anderes Verständnis, oder, genauer, ein anderer sozialer Wert von "Lüge und Wahrheit".

Auf die Zeichen von Gesichtswahrung trifft man in Tunesien weit häufiger, als man es glaubt - und nicht nur bei Geschäften oder komplizierten Sachverhalten, sondern im Alltagsleben und beinahe jederzeit.
So gut wie jeder, der Tunesien bereist hat, ist bereits dem Phänomen begegnet, daß man, fragt man nach dem Weg zu einem bestimmten Ziel, von 10 verschiedenen Personen im Extremfall 10 verschiedene Antworten erhält, die zu 10 verschiedenen Zielen führen.

Keiner dieser Personen hat dabei, nach eigenem Verständnis, eine absichtlich falsche oder böswillige Auskunft gegeben, sondern es war vielmehr so, daß keiner dieser Personen die richtige Antwort kannte.
Um dies aber nicht zuzugeben, wird dann eine Antwort gegeben, von der die Person glaubt, daß sie zutreffen könnte oder daß sie dem tatsächlichen Ziel des Reisenden zumindest nahekommt.
Damit wurde zum einen das "Gesicht gewahrt", die eigene Inkompetenz in dieser Frage mußte also nicht zugegeben werden und zum anderen wurde auch dem Reisenden geholfen, der auf seine Frage immerhin eine Antwort erhalten hat und somit nicht unhöflich behandelt wurde, was wiederum dessen Ehre (Gesicht) geschadet hätte.

Nach deutschem Verständnis ist dieser Gedankengang natürlich, gelinde gesagt, bizarr. Und das Ergebnis wird oft als "wertlos" bezeichnet, denn der Reisende wird, aufgrund seiner Erfahrungen aus seinem Heimatland, dem Hinweis oft vertrauensselig folgen und am Ende nicht da ankommen, wo er hinwollte. Er fühlt sich getäuscht und belogen.

Dieses Beispiel zeigt aber einen wesentlichen Unterschied der tunesischen Gesellschaft zur deutschen - während es für einen Tunesier "würdevoll" ist, sich als fehlerlos darzustehen, wird es in der deutschen Gesellschaft als positiv wahrgenommen, wenn jemand seine Unzulänglichkeit zugibt.
Wenn ein Deutscher sagt, daß er die Antwort nicht weiß, oder sich für eine unabsichtlich falsche Antwort entschuldigt, trägt dies zu seiner Ehrenhaftigkeit bei - und sogar noch mehr, derjenige nämlich, der sich unnachgiebig um Wahrheit und Ehrlichkeit bemüht, selbst wenn dies ihm selbst Nachteile bringen würde, gilt als besonders ehrhaft.

Anders in Tunesien, wo derjenige, der sich als fehlerhaft darstellt, von der Gesellschaft negativ sanktioniert wird. Sogar dann, wenn die Logik oder Fakten es beweisen, daß jemand einen Fehler machte, wird dieser das dennoch nicht zugeben, um seine Würde, die unablösbar mit seiner Fehlerlosigkeit verbunden ist, nicht zu verlieren. In dieser Situation wird ein Tunesier sich bemühen, auch absurdestes Interpretationen des Geschehens anzubieten, um einen eigenen Fehler abzustreiten.

Statt "Ich habe die Kamera fallenlassen" wird man stets "Die Kamera ist hingefallen" hören und selbst wenn niemand anderes in der Nähe gewesen ist, wird die persönliche Beteiligung an dem Vorfall stets abgestritten werden ("ich stand hier und plötzlich fiel sie dort drüben herunter").

Eine solche - oft an den Haaren herbeigezogene - Erklärung ist übrigens nicht dafür gedacht, daß man sie anschließend in Zweifel zieht. Stattdessen ist die Übereinkunft, daß jeder der Beteiligten genau weiß, was passiert ist, doch niemand es zur Sprache bringen wird, weil dies als ein Angriff auf das Gesicht des anderen verstanden würde.

Aus westlicher Sicht ist ein solches Verhalten jedoch, ganz genau im Gegenteil, ehrschädigend und wird oft sogar als offenbar unfreundlicher Akt wahrgenommen.
Ein Deutscher, der sich so verhielte, würde unter Umständen sogar als psychisch "krank" oder pathologischer Lügner gelten - nicht aber in Tunesien, wo die persönliche Integrität, die Ehre, das Gesicht, einen größeren Wert in der Gesellschaft hat, als Logik oder Fakten.
Was ein Deutscher als "Lüge", "Halbwahrheit" und "Täuschung" wahrnimmt, das ist in Tunesien der gesellschaftliche Zwang zur Gesichtswahrung, zur Wahrung der persönlichen Ehre, der in dieser Gesellschaft über einem Wert wie der Wahrheit steht - genau entgegengesetzt zu dem, was in der deutschen Gesellschaft gilt.

Auch durch die Beleidigung eines Gastes verliert man sein Gesicht - sei es, daß man ihm gegenüber ungebührlich spricht, ihn kritisiert oder ihn in eine für ihn negative Lage bringt.

So wird ein Geschenk nicht nur deshalb erst später ausgepackt, weil man nicht als gierig gelten will, sondern, weil man den Gast nicht durch eine eigene, vielleicht abwertende, Reaktion beim auspacken in Verlegenheit bringen will.

Man sieht über Unzulänglichkeiten, wie eine unangemessene Kleidung eines Gastes, hinweg, weil man ihn nicht kritisiereren will.
Und man sagt es ihm auch nicht, unter keinen Umständen, was man wirklich über ihn denkt, falls es negativ ist - stattdessen hebt man lieber positive Dinge hervor, die man problemlos anpreisen kann.

Vor diesem Hintergrund wird es auch klar, wie beleidigend die explizite Beleidigung eines anderen in Tunesien wirklich ist  und warum ein - für unser Ohren einfaches Schimpfwort - in Tunesien blitzschnell eine furiose Schlägerei entfesseln kann.

Kein Tunesier würde es sich beispielsweise gefallen lassen, so wie es die Touristen tun, daß sie oder ihre Frauen von einem Andenkenverkäufer angefaßt würden - oder mit Blicken und anzüglichen Bemerkungen angegangen werden, denn beides stellt einen Angriff auf das eigene oder das Gesicht der Frau (das ihr Ehemann schützen muß) dar, der sofort und mit größter Energie abgewehrt werden muß.

In Deutschland stehen Fakten, die objektiv als solche überprüft werden können, an der Spitze der Glaubwürdigkeit und gelten als "wissenschaftlich" unangreifbar.

Anders in Tunesien, wo sogenannte "subjektive Fakten" eine große Rolle spielen. In dem Moment, wo die eigene (subjektive) Wirklichkeit mit einer anderen (objektiven) Wirklichkeit kollidiert, werden Interpretationen angestellt, die beide Wirklichkeiten in Übereinstimmung bringen - völlig unabhängig davon, wie hoch der "Wahrheits"grad ist.

Das, was in Deutschland als "Realitätsverlust" oder "Wunschdenken" bezeichnet würde, hat also in Tunesien Methode und dient der Stärkung der Überzeugung, daß die eigene Wirklichkeit korrekt ist.

Dieser Umstand erklärt es auch, wieso man oft in Tunesien die abenteuerlichsten Schuldzuweisungen hört. Diese Bezichtigungen erfolgen nicht wider besseren Wissens, sondern sie erfolgen, weil die jeweilige Person selbst davon überzeugt ist, daß es sich so verhält.

So verliert eine Mannschaft beispielsweise ein Fußballspiel, weil der Wind in die falsche Richtung wehte, oder weil der Schiedsrichter sie benachteiligt hat - doch niemals, weil sie schlechter war, als die Gegenmannschaft.

Oder, um auch ein aktuelles Beispiel zu zeigen, hat der Tourismus in Tunesien deshalb abgenommen, weil die Europäer es nicht würdigen oder unterstützen wollen, daß es im Land einen Umsturz gegeben hat - nicht aber, weil die Preise zu hoch oder der Service zu schlecht sind.


Dieser Artikel wurde auch hier veröffentlicht: Gesellschaft, Ehre und Gesicht

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